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Menschen regulieren tagtäglich, wie viel Einbli-
cke sie anderen Menschen in ihre Gefühlswelt
und in ihre Gedanken gewähren und wie nah sie
andere an sich heran lassen. Dieser Prozess der
Kontrolle und Regulierung wird als Privatsphä-
re bezeichnet und interessiert viele Wissen-
schaftler, von Psychologen über Philosophen
bis zu Rechtswissenschaftlern.
In der Kommunikationswissenschaft ist das
Thema Privatsphäre vor allem mit dem Internet
bedeutsam geworden, weil Menschen hier häu-
fig sehr frei und offenherzig von sich berichten
und dies im Kontrast zu anderen Lebensberei-
chen steht. Privatsphäre ist uns wichtig, wenn
wir auf der Straße von Marktforschern ange-
sprochen werden, wenn ein Fremder unseren
Vorgarten betritt oder wir an einer Zählung des
statistischen Bundesamtes teilnehmen sollen.
Sie scheint aber weniger wichtig bei der Preis-
gabe intimer Informationen im Internet. Wieso
dieser Widerspruch? Gelten im Internet andere
Regeln der Privatsphäre? Wie sehen diese aus,
und wie viel Privatsphäre gibt es online über-
haupt?
Viele Internetnutzer denken darüber nach, wie
viel sie von sich preisgeben und welche Folgen
das haben kann. Immerhin 60 Prozent aller
Europäer sind besorgt darüber, dass persön-
liche Daten von ihnen im Internet kursieren,
sehen jedoch keine Alternative, wenn sie das
Internet nutzen wollen. Diese Sorgen sind be-
rechtigt, denn die Nutzung des Internets ist nie
im eigentlichen Sinne privat. Aktive Nutzer von
sozialen Netzwerken teilen ihre Daten, Gedan-
ken und Gefühle nicht nur mit ihren Freunden,
sondern auch mit den Betreibern der Netzwerk-
seiten. Alle hochgeladenen Inhalte gehen gar in
das Eigentum der Betreiber über. So gesehen
haben wir im Internet keine Privatsphäre.
Der Begriff der Privatsphäre bezieht sich aber
nicht nur darauf, welche Informationen, Ge-
danken und Gefühle objektiv geteilt werden,
sondern auch darauf, wie Menschen dies sub-
jektiv empfinden. Und dies wiederum wird im
Internet und anderswo nicht kühl kalkuliert,
sondern hängt auch davon ab, welchen Gewinn
wir aus der Nutzung ziehen und wie sie abläuft.
Wenn das Teilen von Daten in sozialen Netz-
werken nicht als Kontrollverlust erlebt wird,
ist dies aus psychologischer Sicht auch keine
Einschränkung unserer Privatsphäre. Kom-
munikationswissenschaftliche Studien zeigen
hier recht deutlich: Die meisten User erleben
die Preisgabe privater Informationen als gro-
ßen Gewinn. Sich anderen mitzuteilen, Fotos
oder Videos auszutauschen, eigene Ideen mit
weit entfernt wohnenden Personen zu teilen,
bereitet Freude und stimuliert die Weiternut-
zung. Gleichzeitig erleben die User während
der Nutzung ein hohes Ausmaß an Kontrolle.
Sie können mit Freundeslisten bestimmen,
wer Adressat ihrer Informationen ist, Nach-
richten vor dem Veröffentlichen noch einmal
durchlesen und unmittelbare Reaktionen wie
Online oder Allein?
Zur Privatsphäre im Internet
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