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Die Frage nach den Wirkungen von Gewalt in
den Medien hat in Deutschland eine Traditi-
on, die bis vor den Ersten Weltkrieg zurück
reicht. Die ‚moderne‘ Forschung begann in
den 1960er Jahren – in einem Umfeld, in dem
Fernsehgewalt gern als Sündenbock für soziale
Missstände wie Jugendgewalt und -kriminalität
aufgebaut wurde. Generell wurde dabei nicht
strukturelle Gewalt beachtet, also in einem
sozialen System bestehende Ungerechtigkeit,
sondern personale Gewalt: die beabsichtigte
physische und/oder psychische Schädigung von
Personen, Lebewesen und Sachen durch eine
andere Person oder ein soziales System.
Den Anfang machten zum einen inhaltsanaly-
tische Studien von Unterhaltungsprogrammen,
wobei das Niveau der „Leichenzählerei“ bald
überwunden und potentiell wirkungssteigernde
Aspekte berücksichtigt wurden, etwa Merkmale
von Tätern und Opfern, der Realitätsgrad der
Gewaltdarstellung oder ihre Rechtfertigung.
Gegenstand von Inhaltsanalysen waren zudem
auch nicht-fiktionale Gewaltakte in Reality-
Sendungen, Nachrichten, Magazinen, Sport-
sendungen usw. Die frühen Inhaltsanalysen
erfassten also in erster Linie das Gefährdungs-
potenzial durch Mediengewalt. Rückschlüsse
auf Effekte lassen sie nicht zu.
Ein zweiter Forschungsstrang versuchte da-
her, die Wirkungen von Gewalt im Fernsehen
konkret zu messen. Dabei erwies sich die The-
orie des Lernens durch Beobachtung, auch
Modell-Lernen genannt, als besonders treffend:
Durch Beobachten können Rezipienten sich bei
Fernsehfiguren bestimmte Verhaltensmuster
abschauen, die sie dann je nach ihrer Persön-
lichkeit, ihrem sozialen Umfeld, aber auch
der Art der Gewaltdarstellung gegebenenfalls
selbst nachahmen. Untersucht haben Forscher
darüber hinaus auch, ob Gewaltdarstellungen
zu Abstumpfungs- oder Gewöhnungseffekten
führen, ob also das Mitfühlen mit dem Opfer
abnimmt oder die Gleichgültigkeit gegenüber
realer Gewalt zunimmt.
Die Suggestionsthese, die unmittelbare Nach-
ahmungen unterstellt, hat unter anderem For-
schungen zu medienindizierten Selbstmorden
und fremdenfeindlichen Straftaten beeinflusst.
Untersuchungen wurden ferner durchgeführt
zur Kultivierungsthese (Weltbildverzerrung
insb. Kriminalitätsfurcht durch Fernsehkon-
sum), zur Erregungstransfer-These (abhängig
von situationsspezifischen Aspekten bewirkt
Mediengewalt Aggression oder prosoziales Ver-
halten) und zur Stimulationsthese (bestimmte
Stimuli wie z.B. Waffen wirken aggressionsbe-
günstigend). Die für das Fernsehen widerlegte
Katharsisthese, die von einer Aggressionsab-
fuhr durch die Rezeption von Mediengewalt
ausgeht, wird in Bezug auf die Wirkung von
Computerspielgewalt ‚wiederbelebt‘. Die Nut-
zungsperspektive hat lange geringere Aufmerk-
samkeit gefunden als Wirkungsaspekte, wobei
aber die Kenntnis der Zuwendungsmotive
Was bewirkt Gewalt im Fernsehen?
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