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Die Antwort lautet „Ja“ – jedoch anders, als es
sich viele Erwachsene vorstellen und anders als
sie es oftmals gerne hätten. Die wesentlichen
Punkte der Diskussion um Medienvorbilder
lassen sich pointiert so zusammenfassen:
Dem Fernsehen – und zunehmend auch „neu-
en“ Medienangeboten wie Sozialen Netzwerken
– wird in Zeiten von Individualisierung und
Flexibilisierung eine bedeutende Sozialisations-
funktion zugeschrieben. Während klassische
gesellschaftliche Institutionen wie soziale Mili-
eus, Kirchen, Familien, Berufsrollen, politische
Institutionen usw. an Bedeutung verlieren, ge-
winnen Medien an Geltung.
(Nicht nur) Jugendliche orientieren sich an
anderen Menschen und damit auch an Medien-
personen. Sie tun dies um festzustellen, wo sie
stehen, wohin sie sich entwickeln können und
wollen – und wohin nicht. Der Vergleich mit
Anderen liefert ihnen Informationen darüber,
ob und wo die eigenen Eigenschaften, Haltun-
gen und Verhaltensweisen okay sind – und wo
nicht. Dabei geht es um den eigenen Lebensstil,
Vorlieben in Bezug auf Mode, Musik, Freizeit­
aktivitäten etc., die Zugehörigkeit und Ab-
grenzung zu sozialen Gruppen, das Verhalten
in Beziehungen, Familie, Freundschaften oder
Berufen sowie um zentrale Überzeugungen wie
Moral, Normen und Werte.
Die Attraktivität medialer Vorbilder liegt vor
allem in den großen Auswahl­möglichkeiten, der
leichten Verfügbarkeit, der sicheren Distanz,
aus der man sie beobachten kann, und dem
fehlenden Sanktionspotenzial der Mediencha-
raktere gegenüber dem Beobachter. Hierin liegt
aber auch ihre größte Schwäche: Ohne Interak-
tion, Feedback und Resonanz werden mediale
Rollenvorbilder in die Lebenswelt Jugendlicher
allenfalls oberflächlich und selten nachhaltig
integriert.
Deswegen sind die Reaktionen des sozialen Um-
felds – also von Freunden, Familie und Kollegen
– wichtig für die Reichweite medialer Vorbilder.
Dieses Umfeld hat begrenzenden, moderieren-
den und erweiternden Einfluss. Wenn es also
um zentrale Identitätsdimensionen wie Werte
und sozialen Umgang geht, haben reale Figu-
ren den stärksten Einfluss – im positiven wie
im negativen Sinn. Mediencharaktere sind vor
allem zentrale Vorbilder, wenn Jugendliche ori-
entierungslos sind, keinen Anschluss an soziale
Gruppen haben und ihre zentralen Lebensfra-
gen nicht anders beantworten können.
Jugendliche kopieren Eigenschaften und Ver-
halten von Medienfiguren aber auch dann nicht
eins-zu-eins auf sich und ihr eigenes Leben. Sie
tun dies nicht passiv, unreflektiert und reaktiv,
sondern aktiv, selektiv und konstruktiv. Vorbil-
der werden vor dem Hintergrund der eigenen
Lebenswelt wahrgenommen, interpretiert, ver-
arbeitet und integriert. Interessante und viel-
versprechende Haltungen und Verhaltenswei-
sen von Mediencharakteren werden bewertet
Liefert das Fernsehen
Vorbilder für die Jugend?
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