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Absolute Objektivität ist prinzipiell unerreich-
bar. Denn Journalisten verdichten Realität,
sie schneiden Wirklichkeit schon durch den
Akt der Auswahl zurecht. Sie arrangieren Er-
lebtes und Recherchiertes mit Blick auf den
Erkenntniseffekt. Sie liefern szenische Rekon-
struktionen – ohne dass der Reporter dabei
gewesen sein muss. Sie verwenden Metaphern
und Allegorien, die gerade den Zweck haben,
den Leserinnen und Lesern eine fremde Welt
nah erscheinen zu lassen, sie für einen Moment
soziale, räumliche oder zeitliche Distanzen ver-
gessen zu machen.
Auch das so genannte Faktum, die Tatsache
selbst, ist Resultat eines komplexen Konstruk-
tionsprozesses. Man weiß und erfährt nur, was
man eben – aufgrund der eigenen Biographie
und Biologie, der Sozialisation und der beson-
deren Situation, den Zufällen und den beson-
deren Glücksmomenten einer Recherche – in
Erfahrung bringen kann. Mit anderen Worten:
Objektivität ist unerreichbar. Und man kann
gar nicht nicht konstruieren. Auf diese schlichte
Formel lässt sich die erkenntnistheoretische
Grundmelodie von Immanuel Kant bis zu Wolf
Singer bringen.
Jeder Journalist muss überdies gestalten und
kann gar nicht alles aufschreiben und verwen-
den. Er muss auswählen, eine gewaltige Rest-
welt ausblenden und gleichzeitig die Gesetze
und Erfordernisse des Mediums und der Gat-
tung beachten. Auch dieser Akt der Gestaltung
ist unvermeidbar. Man kann nicht nicht gestal-
ten, geht man doch bei der Recherche auf eine
bestimmte Weise vor, wählt eine besondere
Sprache, montiert Handlungsstränge, persona-
lisiert eine Idee, komprimiert und fokussiert,
liefert Kontext- und Hintergrundinformatio-
nen, dokumentiert Szenen – aus eigenem oder
fremden Erleben. Das ist ganz einfach journalis-
tische Normalität.
Erst danach beginnen die eigentlichen Schwie-
rigkeiten; erst danach gerät der Journalist in
eine Sphäre, die jenseits von Konstruktion
und Gestaltung liegt: Er publiziert dann wo-
möglich etwas, von dem er gleichzeitig weiß,
dass es so nicht stimmt, nicht stimmen kann.
Dann wird in anrüchiger Weise inszeniert,
manipuliert, letztlich gelogen, getäuscht und
getrickst. Genau diese Grenze von der unver-
meidlichen Gestaltung bis hin zur vermeidba-
ren Täuschung gilt es sich bewusst zu machen –
nicht im Dienste einer archaischen Idee von
unbedingter Objektivität und absoluter
Wahrheit. Sondern im Dienste eigener Wahr-
haftigkeit.
Das moralische Kunststück besteht also darin,
die alte, überzogene Erkenntnisidee ad acta zu
legen und sich als Journalist doch ein Gespür
für eine angemessene oder unangemessene
Darstellung zu bewahren. Darauf kommt es
an. Eine Lüge besteht nicht – so gilt es sich
Kann Journalismus objektiv sein?
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