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Politiker, Medienschaffende und Andere behaup-
ten oft, dass die modernen Medien wie Presse,
Radio und Fernsehen sowie das neue Medium
Internet einen unverzichtbaren Beitrag zum
Funktionieren der Demokratie leisten. Dazu ge-
höre auch, dass sie bestehende soziale Ungleich-
heiten abschwächen. Medien stellen relevante
Themen für die Öffentlichkeit bereit. Sie liefern
Bürgerinnen und Bürgern Argumente für und
gegen umstrittene Themen und bereiten Hin-
tergrundwissen für politische Entscheidungen
sorgfältig und verständlich auf. Doch schwächen
sie auch soziale Ungleichheiten ab?
1970 hat eine US-Forschergruppe um Phillip
Tichenor von der University of Minnesota diese
Annahmen erstmals radikal in Frage gestellt. Die
Forscher formulierten die These einer sich ver-
stärkenden Wissenskluft und belegten sie mit
ersten Ergebnissen. Sie zeigten, dass nicht alle
Menschen gleichermaßen von Medieninformati-
onen profitieren. Menschen mit höherer Bildung
und höherem sozialen Status (Beruf und Ein-
kommen) nehmen neue Medieninformationen
schneller und umfassender auf. Die Folge ist,
dass sich bestehende Wissensunterschiede nicht
verringern, sondern noch verstärken. Das heißt
nicht, dass weniger gebildete Mediennutzer
nichts aus Medien lernen; sie tun dies nur lang-
samer und weniger effizient. Die „Schere im Wis-
sen“ öffnet sich deshalb weiter. Dieses Phäno-
men, das auch als „Matthäus-Effekt“ bezeichnet
wird („Wer hat, dem wird gegeben“), lässt sich
besonders bei politischen, aber auch bei schwie-
rigen wissenschaftlichen Themen beobachten.
Wissensklüfte verstärken sich, weil gebildetere
Mediennutzer im Allgemeinen über mehr Vor-
wissen und umfassendere Medienkompetenzen
verfügen, informationsreichere Printmedien und
nicht nur das Fernsehen nutzen, auch jenseits
der Medien in Gesprächen mit anderen Men-
schen über politische Themen diskutieren, und
zwar in größeren sozialen Netzen. Allerdings
gibt es auch ausgleichende Momente: Bei um-
strittenen Themen führt der gesellschaftliche
Konflikt oft zu einer gleichmäßigeren Infor-
mationsverteilung. Zudem kann eine starke
Motivation zur Mediennutzung bei bestimmten
Themen Bildungsnachteile ausgleichen. Doch
ist es bei Themen der Politik, aber auch bei abs-
trakteren Themen aus Technik und Wissenschaft
vielfach so, dass Gebildete interessierter sind.
Derartige Wissensklüfte sind zudem auch ver-
haltenswirksam: Mit dem Aufkommen des In-
ternets wurde zunächst optimistisch vermutet,
dass sich die politische Partizipation insgesamt
erhöhen würde. Wissenskluft-Forscher formu-
lierten demgegenüber eher pessimistisch die
These einer digitalen Kluft: Weil sich gebildetere,
jüngere Menschen – die so genannten „Digital
Natives“ – und anfänglich auch Männer dieses
neue Medium rascher aneigneten, verstärkten
sich die Zugangsklüfte zum Internet, was weite-
re Klüfte auch im Wissenserwerb nach sich zog.
Heinz Bonfadelli, Universität Zürich
Verstärken Medien
soziale Ungleichheit?
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