104
Thema Nr. 1 im Internet ist Sex. So lautet ein
verbreiteter Mythos. Vorliegende Daten wider-
sprechen: In Ranglisten der meistbesuchten
Websites tauchen Porno-Plattformen weit hin-
ter Google, YouTube, Ebay, Wikipedia, Amazon
oder Spiegel Online auf. Dennoch ist Sex keine
unwichtige Facette der Online-Kommunikation.
Denn durch das Internet sind Erotika und Por-
nografie heute in historisch einmalig großer
Menge und Vielfalt jederzeit kostengünstig und
diskret zugänglich: Mausklick statt Besuch im
Sexshop oder in der Videothek. Dem Angebot
steht eine entsprechende Nachfrage gegenüber.
Pornografie ist somit gesellschaftlich sichtbarer
geworden. Sie wird von breiteren Bevölkerungs-
kreisen genutzt und taucht als Bezugspunkt
verstärkt in der Populärkultur auf: Wenn Ju-
gendliche etwas toll finden, ist es „geil“ oder
„voll porno“. Wenn kosmetikbegeisterte Frau-
en eine Wimperntusche loben, dann weil sie
„Porno-Wimpern“ macht. All dies ist mit „Por-
nografisierung“ gemeint. Sie geht über die seit
Dekaden beobachtete „Sexualisierung“ hinaus,
denn Hardcore-Pornografie ist definitionsge-
mäß viel direkter und detaillierter als die bisher
in der Öffentlichkeit gewohnten Sexualitätsdar-
stellungen.
In der gesellschaftlichen Debatte zu Pornografie
stehen sich zwei Lager gegenüber: Gemäß der
Anti-Porno-Position liefert Pornografie eine fal-
sche – nämlich unrealistische, beziehungslose,
leistungsorientierte, frauenfeindliche oder gar
gewaltförmige – Darstellung von Sexualität, die
die sexuellen Vorstellungen und Verhaltenswei-
sen des Publikums negativ beeinflussen könne.
Zudem werde sie von einer millionenschweren
Industrie unter fragwürdigen Bedingungen
produziert und vermarktet. Eine stärkere recht-
liche Regulierung und kulturelle Ächtung von
Pornografie wird aus dieser Sicht gefordert.
Demgegenüber warnt die Anti-Zensur-Position
vor weit reichenden staatlichen Kontrollen wie
Internet-Sperren oder Vorratsdatenspeiche-
rung. Diese seien eine viel größere Bedrohung
für Demokratie und Geschlechtergleichberechti-
gung als die relativ unschädliche Pornografie.
Der Streit zwischen beiden Lagern wurde nach
der Legalisierung visueller Pornografie vor al-
lem in den 1970er und 1980er Jahren erbittert
geführt. Heute mehren sich die Stimmen, die
darauf drängen, simplifizierende Wertungen
aufzugeben und stattdessen genauer zu un-
tersuchen, was sich hinter sexuell expliziten
Geschichten, Zeichnungen, Spielen, Fotos und
Videos verbirgt:
Unter welchen Bedingungen werden die
verschiedenen Formen der Pornografie von
wem produziert? Neben der Mainstream-
Porno-Industrie sind im Internet viele klei-
ne Labels und Privatpersonen aktiv.
Welche Merkmale haben unterschiedliche
Pornografie-Gattungen? Was unterschei-
det Amateur- von kommerzieller Porno-
Fördert das Internet die
„Pornografisierung“ der Gesellschaft?
42
1...,94,95,96,97,98,99,100,101,102,103 105,106,107,108,109,110,111,112,113,114,...132