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Aus Sicht der kommunikationswissenschaftli-
chen Geschlechterforschung lautet die Antwort
ganz klar: Nein. Geschlecht ist kein Wesens-
merkmal und bestimmt weder die Charakteris-
tika noch Vorlieben von Menschen. Männern
und Frauen werden eben nicht bestimmte Ei-
genschaften in die Wiege gelegt, die im Verlauf
des Lebens ihre Handlungsweisen, Interessen
und Gefühle unausweichlich vorbestimmen.
Trotzdem gehen wir im Alltag wie selbstver-
ständlich davon aus, dass sich die Interessen
weiblicher von denen männlicher Mediennutzer
unterscheiden, weil Frauen und Männer teilwei-
se verschie­de­ne Medienformate und -inhalte
nachfragen. Zudem werden über das Geschlecht
Zielgruppen definiert. Ein Beispiel dafür ist die
Aufteilung des Publikumszeit­schriftenmarkts
in Titel für Männer und Frauen. Darüber hinaus
herrscht Einigkeit, dass Frauen und Männer
unterschiedliche Genres mögen: Intuitiv meinen
wir zu wissen, welche Gruppe Soap Operas und
welche Actionfilme bevorzugen würde.
Warum also lässt sich beobachten, dass Frau-
en und Männer voneinander abweichende
Medienin­halte und -formate präferieren, wenn
das Geschlecht nicht ihre Medienvorlieben
bestimmt? Um diese Frage zu beantworten,
bedarf es einer Auseinandersetzung mit der
Entstehung und Bedeutung von Geschlecht.
‚Geschlecht‘ ist eine Kategorie, die in Gesell-
schaften Struktur und damit Ordnung herstellt,
an die die Menschen gewöhnt sind. Deshalb
erhalten sie diese Ordnung aufrecht, indem sie
sich selbst als männlich oder weiblich zu erken-
nen geben und auch Andere in dieses Schema
einordnen. Und dafür müssen Weiblichkeit und
Männlichkeit von den Gesellschaftsmitgliedern
immer wieder neu hergestellt werden. Sie wer-
den über Sprache, Körper und Handlungen zum
Ausdruck gebracht. Diese Herstellungsprozesse
heißen Doing Gender.
Da Geschlecht entlang der Unterscheidung von
weiblich und männlich definiert ist – und nicht
entlang mehrerer Geschlechter – läuft Doing
Gender meistens auf eine Entweder-Oder-Un-
terscheidung hinaus. Ausnahmen bilden Men-
schen wie Drag Queens, die sich einer binären
Einordnung entziehen. Differenzen zwischen
Frauen und Männer erkennen wir also nicht
deshalb, weil Menschen aufgrund des Ge-
schlechts unterschiedlich sind, sondern weil sie
den gesellschaftlichen Regeln folgend an ihrer
Erkennbarkeit als Mann oder Frau mitwirken
und sich aus diesem Grund entsprechend prä-
sentieren.
Eine Möglichkeit, diese Entweder-Oder-Un-
terscheidung zum Ausdruck zu bringen, ist die
Formulierung von Medienvorlieben. Da zum
Beispiel die Lektüre von Frauenzeitschriften als
weibliches oder das Ansehen eines Boxkampfs
als männliches Handeln verstanden wird, stellt
schon die Nutzung dieser Inhalte Doing Gender
dar. Außerdem kann man so geschlechtsgebun-
denes Wissen erwerben: Wer Frauenzeitschrif-
Gibt es typisch weibliche
und männliche Medieninteressen?
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